Hexenpost

Spiritualität - Umwelt - Gesellschaft

Von Hexen und anderen vermeintlichen Märchenwesen



Sie stand den ganzen Tag schon hier. Hier, in der dunklen Ecke zwischen Karstadt und Woolworth, die wie eine schmale Gasse wirkte, sich aber durch eine schräg heruntergezogene Wand des ersten Kaufhauses zu einem toten Ende verengte. Es war ein Platz, den Hunde nutzen, um sich zu erleichtern. Oder aber jene Obdachlosen, von denen es in dieser Stadt (wie allen) viel zu viele gab. Heute jedoch war von keinem der beiden üblichen Nutznießer dieses Ortes auch nur eine Spur zu sehen. Wie stets hielt ihre Aura Mensch wie Tier davon ab ihr zu nahe zu kommen. Ohne davon zu wissen, entschied jede der Gestalten, die hier für gewöhnlich, zottelhaarig und sich mit ihren Flaschen mit niedrigpreisigem, alkoholischem Inhalt zuprostend, aufhielten, unabhängig voneinander, den heutigen Tag an einem anderen ihrer Treffpunkte verbringen zu wollen.
So blieb sie allein und für sich. Auch die Passanten nahmen sie nicht wahr, in ihrer stillen, dunklen Ecke. Vermutlich war es die finsterste dieses Tages, eines vierten Advents, in der hellerleuchteten Stadt. Bald schon wäre Weihnachten, wovon die geschäftig auf der verzweifelten Suche nach Last-Minute-Geschenken in den heute zur Feier des Tages ausnahmsweise auch sonntags geöffneten Geschäften um sie her hastenden Menschen kündeten.
Auch sie, die Hexe, spürte die Besonderheit des Tages von ihren Fingerspitzen bis in diejenigen ihrer Zehen. Das nahende christliche Fest der Liebe interessierte sie hierbei weniger als die ungleich ältere Bedeutung des heutigen Tages. Wintersonnenwende. Der kürzeste Tag des Jahres, an dem die Macht der Dunkelheit alljährlich am stärksten war. Und deswegen war sie hier. Um die ahnungslosen, in Gedanken ausschließlich bei LEGO, Krawatten, Parfüm und Schmuck verweilenden Menschen dieser Stadt durch ihre Anwesenheit wenigstens ein Stück weit vor den Einflüssen der Schatten zu bewahren. Das hielt sie seit Jahren so.
Dank ihr verspürten die Zaudernden weniger Zweifel, die Wütenden weniger Zorn, die Ängstlichen weniger Furcht. Sie war sich bewusst, dass ihre Handlungen, jede für sich, jeweils nur winzige Tropfen auf den sprichwörtlichen heißen Stein darstellten. Den Himmel auf Erden oder auch das biblisch beschriebene Paradies erschuf sie dadurch nicht. Und das war auch gar nicht ihre Absicht. Schließlich wusste sie, dass jede äußere Veränderung des uralten Gleichgewichts zwischen Licht und Schatten, zwischen Gut und Böse, wenn man so wollte, bezahlt werden wollte. Dass der Preis, wenn ihr Eingreifen zu gewaltig war, hierfür hoch wäre, hatte sie, als noch junge, unerfahrene Hexe, sprichwörtlich die Welt retten wollte, schmerzlich am eigenen Leib erfahren und lange gebraucht, um sich von der Schwächung ihrer eigenen Person und auch ihrem Entsetzen über die unvorhergesehenen, ins Gegenteil umschlagenden Konsequenzen ihres gut gemeinten Handelns zu erholen.
Nein, ändern konnte die Menschheit sich nur aus eigenem, inneren Antrieb heraus. Wenn ihre kleinen Segnungen einen Impuls hierzu gaben, zumindest ab und an mal wieder, dann hatte ihre Existenz einen Sinn und sie ihre Sache gut gemacht.
Und, vielleicht, vielleicht, hätte sie dann, wenn die Tage wieder länger würden und die Menschen sich um den 24. Dezember herum auch ohne ihr weiteres Zutun auf das Wichtigste, nämlich ihr liebevolles Miteinander, besannen, auch wieder einmal Zeit und Gelegenheit dafür sich, selbst zu belohnen.
An keiner der Einschränkungen, welche das Leben als Hexe mit sich brachte, litt sie in besonderem Maße. Nicht daran, dass sie auf Grund ihrer Quasi-Unsichtbarkeit für Normalsterbliche abgesehen von den anderen Mitgliedern ihrer Zunft, auf die sie ab und an traf, kaum Freunde hatte. Auch nicht an ihrer Wohnsituation, die jeder moderne Mensch als eine Zumutung an Kargheit und Isolation beschimpft hätte. Doch sie mochte ihre hölzerne Hexenhütte, liebte ihre Katze wie ihren Raben und störte sich nicht an der Abwesenheit von Strom und einer Gasheizung. Magisches Feuer und ihr Kamin genügten ihr völlig.
Nein. Das Einzige, nach dem sie sich, zumindest hin und wieder, sehnte, war die Vereinigung mit einem Mann. Warum die Natur, die der Fortpflanzung doch im Allgemeinen bejahend gegenüberstand, es so eingerichtet hatte, dass sie, wie alle Hexen, einen Großteil ihrer Intuition und Zauberkraft verlor, wenn sie mit einem Mann zusammen war, wollte ihr nach all den Jahrzehnten ihrer wechselhaften Existenz nicht in den Kopf. Dieser überaus lästige Nebeneffekt betraf nicht nur Paarungen, bei denen sich die Hexe einen Mann mit Hilfe ihrer Magie gefügig gemacht hatte, sondern ärgerlicherweise auch jene, wo es zu einer beiderseitig freiwilligen Zusammenkunft gekommen war. Ausnahmen gab es – leider keine.
Ja, so dachte sie, als es langsam dunkel wurde und ihre Ecke somit noch tiefer in die Schatten geriet, allein dieses eherne, dem Wirrkopf eines ihr unbekannten, lustfeindlichen Naturgeistes entsprungene Gesetz sorgte dafür, dass ihr ihr hexisches Leben bisweilen als Last und ihre Aufgabe als Opfer erschien. Normalerweise amüsierte es sie, dass ausgerechnet diejenige Institution, die es sich noch bis vor wenigen Jahrhunderten auf die Fahne geschrieben hatte, die Hexen zu vernichten, namentlich die katholische Kirche, die Enthaltsamkeit ihrer Zunft in ihren Klöstern imitierte und auch von ihren Nonnen und Mönchen ein Leben frei von physischer Liebe erwarteten. Heute jedoch vermochte ihr dieser Gedanke lediglich ein schwaches spöttisches Lächeln zu entlocken. Schließlich verzichtete sie auf diese Freuden bereits seit der Tag-und-Nacht-Gleiche im September, also seit ziemlich genau drei Monden, um in der dazwischenliegenden Zeit der zunehmenden Dunkelheit all ihre Kräfte den zaghaften Seelen der Menschen dieser Stadt zu schenken...
Drei Tage später stand die Hexe an ihrer heimischen Feuerstelle und rührte, fröhlich summend, in dem dort aufgesetzten in einem Kessel siedenden Heiltrank, der ihr jugendliches Aussehen auch für die nächsten Monate erhalten würde. Vor dem Kamin schnurrte ihre Katze zufrieden im Halbschlaf und ihr Rabe ... ja, wo steckte der eigentlich? Ah, er saß auf dem Fensterbrett, schaute hinaus und krächzte: „Kra, kra. Wirst Besuch erhalten, heute. Kra, kra!“
Die Hexe folgte dem Blick des Raben durch die schmutzige Scheibe hinaus ins Schneegestöber und lachte: „Bei diesem Wetter? Ich glaube, diesmal täuschst du dich, mein Lieber!“
Wer sollte sie wie diesem denn schon besuchen an einem Tag? Es war Heiligabend, hierzulande der Höhepunkt des christlichen Weihnachtsfestes, an das sie nicht glaubte, für viele Menschen, vor allem die kleinsten, vielleicht sogar der wichtigste Tag des Jahres überhaupt. Nicht so für sie. Sie war zufrieden damit, den heutigen Abend hier allein und in Frieden zusammen mit ihren Tieren zu verbringen.
Doch als sie, eine halbe Stunde später, sich niedergelassen und einige Schlucke ihres Kräutertrunks genommen hatte, rumpelte es derart laut auf dem Dach ihrer Hütte, dass ihre Katze mit einem kreischenden Miau auffuhr. Mit gesträubtem Fell und empörtem Blick musterte sie den Kamin und machte sich dann beleidigt und mit aufgestelltem Schwanz auf den Weg zur Treppe. Ihre hoheitsvollen Schritte führten sie hinauf in die erste Etage, wo sie es sich, so vermutete es ihre Besitzerin zu recht, im Bett der Hexe bequem machen würde.
Ihren Platz am Kamin übernahm, nachdem es in jenem noch zweimal kräftig gekracht und gepoltert hatte, ein in einer Wolke aus Ruß ebendort hinausstürzender Mensch. Nicht irgendein Mensch, sondern ein Mann. Nicht irgendein Mann, sondern eine Gestalt mit wirrem Rauschebart, rotem Mantel wie Mütze und einem verschmutzten, schlaffen Jutesack auf dem Rücken. Vom Aussehen her hätte der Mann einer jener Obdachlosen sein können, deren Platz die Hexe erst vor wenigen Tagen eingenommen hatte. Mantel und Mütze ließen jedoch etwas anderes vermuten...
Die Hexe musterte ihren unerwarteten Besucher sprachlos und brach, als dieser zu einem „Ho Ho Ho!“ ansetzte, in Gelächter aus. Der Fremde schwieg und räusperte sich dann ausdauernd, bis sie ihn endlich zu Wort kommen ließ.
„Was, bitteschön, ist denn hier so lustig?“ Er hatte eine angenehm tiefe Stimme.
„Na, du!“, erwiderte die Hexe kichernd. „Du willst mir doch nicht ernsthaft weißmachen, du wärest der Weihnachtsmann!“
Indigniert strich sich der Rotbemantelte über seinen Bauch. „Und wieso nicht, wenn ich es doch bin?“
„Dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt und er nur eine kitschige Erfindung Coca Colas ist, weiß doch jedes Kind!“, trumpfte die Hexe auf.
„Ach ja?“, versetzte der Mann. „So, wie es keine Hexen gibt und diese bloß eine Erfindung der Gebrüder Grimm oder der Inquisition sind? Zumal solche altmodischen, die in antiquierten Holzhütten leben und sich Rabe und Katze als Gefährten halten!“
Die Hexe schwieg verblüfft und musterte ihr Gegenüber nochmals von oben bis unten.
„Ja, aber ... was willst du denn ausgerechnet bei mir?“, fragte sie ihn verwirrt.
„Hast du im Unterricht der Sagen und Legenden denn überhaupt nicht aufgepasst?“, seufzte der Weihnachtsmann. „Ich besuche meine Kunden, um ihre Wünsche zu erfüllen!“
„Aber ... ich hab mir doch gar nichts gewünscht!“, wehrte sich die Hexe.
„Nichts, was man für Geld kaufen kann, da gebe ich dir recht“, entgegnete ihr Besucher und schüttelte seinen leeren Sack in einer theatralischen Geste. „Zum Glück“, hier funkelten seine himmelblauen Augen schelmisch, „bin ich in dieser Nacht auch für die Erfüllung immaterieller Wünsche zuständig!“ Und er begann, einen nach dem anderen, die Knöpfe seines Mantels zu öffnen.
Aus Gründen der Diskretion verlassen wir die beiden nun. Der weitere Verlauf der Nacht sei der mehr oder weniger jugendfreien Phantasie der Lesenden überlassen. Die Hexe jedenfalls war noch vor Ablauf des Abends eine sehr glückliche Hexe.
Verraten darf ich außerdem noch, dass sie und der Weihnachtsmann den guten Brauch, den Heiligen Abend nach beidseitig getaner Abend gemeinsam ausklingen zu lassen, auch in den darauffolgenden Jahren beibehielten...

Zurück zur Übersicht und zur Abstimmung

 

E-Mail
Anruf
Infos