Hexenpost

Spiritualität - Umwelt - Gesellschaft

Schicksal


Es ist kalt. Mein Atem tänzelt als graue Schwade vor meinem Gesicht. Er sieht aus wie der Rauch des Feuers. Wie gerne wäre ich jetzt am Feuer, würde meine durchgefrorenen Glieder an den flackernden Wärmequell halten und Mutters heißen Steckrübeneintopf löffeln. Doch stattdessen wate ich noch immer durch den Wald, meine Kleidung vom Niesel durchnässt. Wie lange bin ich schon unterwegs? Eine Stunde? Nein, es muss ein halber Tag sein, im Wald wird es dämmrig. Ich sollte längst im Dorf zurück sein.
Abrupt bleibe ich stehen, sehe mich um. Mein Herz trommelt in meiner Brust, ich presse den Korb mit der Medizin an meinen Bauch. Mutter hatte mich immer ins Nachbardorf mitgenommen, nur jetzt war ich allein. Sie auch.
Tränen sammeln sich in meinen Augen. Ich muss raus aus dem Wald, zu ihr.
Ein Geräusch lässt mich zusammenzucken, mein Herz stockt.
Wölfe! Ihr Geheul kommt näher, im Unterholz knackt es. Meine Beine setzen sich wie von selbst in Bewegung. Der Boden ist matschig, meine Angst wächst. Das Knurren der Tiere dröhnt in meinen Ohren. Panisch blicke ich über meine Schulter. Sie sind direkt hinter mir, verfolgen mich. Schneller, schneller, lauf schneller!
Der nächste Tritt, mein Fuß rutscht weg. Der Boden nähert sich mir. Unsanft schlage ich auf und schlittere mit meinem Leib über den kalten Matsch, mein Gesicht zur Hälfte darin vergraben. Nur den Korb mit der Medizin halte ich fest umklammert.
Die geifernden Mäuler sind das Letzte, was ich sehe, ehe meine Augen von einem schwarzen Schleier umhüllt werden. Ein Knall, dann ein Winseln sind das Letzte, was ich höre, ehe mein Gehör von dumpfer Leere erfasst wird.
Wohltuende Wärme legt sich um meinen frierenden Leib. Ein Knistern. Bin ich tot?
Langsam öffne ich meine Lider, sie sind schwer wie Blei, und erhasche einen Blick auf das lodernde Feuer im Kamin.
Zuhause.
»Mutter.« Meine Stimme nur ein Hauch. Ich sehe einen Schatten näherkommen. Als ich erkenne, wer vor mir steht, reiße ich schlagartig die Augen auf.
Die Waldhexe.
Ich habe sie im Dorf bei uns gesehen. Alle warnen vor ihr und erzählen sich abscheuliche Geschichten. Geschichten, die mich früher nicht haben schlafen lassen. Angst kriecht wie ein glitschiger Aal meine Wirbelsäule hinauf. Ich erstarre.
Sie stellt ein dampfendes Holzgefäß auf den Schemel neben mein Lager.
»Trink. Das wird dich wärmen.«
Voller Misstrauen lenke ich meine Sicht auf das Gefäß mit der heißen Flüssigkeit. Meine Lippen ziehen sich ein, bis sie aussehen wie ein schmaler Strich in meinem Gesicht. Zumindest sieht es in meinem Kopf so aus.
»Du brauchst dich nicht fürchten. Ich bin keine Kinderfresserin, wie ihr euch erzählt.«
Mein Blick schnellt zurück, trifft den ihren. Traurige Augen, die trotz allem Wärme ausstrahlen. Sie richtet sie auf das Gefäß. »Nur Kräuter gegen die Schmerzen. Mädesüß, Weidenrinde und Schafgarbe.«
Die Pflanzen und auch ihre Wirkungen sind mir fremd. Dennoch richte ich mich auf, greife zögernd nach der Holztasse. Die Wärme fühlt sich gut an in meinen Händen und ich merke, wie sehr ich die ganze Zeit noch gefroren habe. Vorsichtig nippe ich an dem Gebräu. Der Duft ist angenehm, wie auch der Geschmack. Würzig, leicht süßlich. Ich frage mich, was das für Pflanzen sind.
Nach ein paar Schlucken setze ich die Tasse wieder ab. Mein Blick schweift durch den Raum. Kräuterbündel hängen von der Decke, neugierig betrachte ich sie eine Wiele, dann sehe ich die Waldhexe an. Erinnerungsfetzen huschen durch meinen Geist. »Was ist geschehen?«
»Ein Blitz schlug ein, hat dich knapp verfehlt. Hat die Wölfe verjagt.«
»Ein Blitz?«
Sie nickt.
»Habt Ihr ihn gesehen?«
Sie nickt wieder.
»Warum wart Ihr da?«
Ein Lächeln überzieht ihr Gesicht. »Es war Schicksal.«
Worte schwirren in meinem Geist herum. Mein Herz schlägt dabei schneller. Schwach kommen sie aus meinem Mund. »Seid Ihr eine Hexe?«
Sie schmunzelt. »Nur eine alte Kräuterfrau, die helfen möchte.« Ihre Stimme ist weich und streichelt meine Seele.
»Warum erzählen sich die Leute dann, ihr wärt eine?«
»Sie fürchten sich vor Menschen, die anders sind und vor Dingen, die sie nicht verstehen. Dingen, die fern ihrer Vorstellungskraft liegen und für sie nicht greifbar sind. Das macht ihnen Angst.« Ihr Lächeln wirkt gequält. Gequält von den unzähligen Vorurteilen der Dorfbewohner, den Beschimpfungen, der Ausgrenzung. Mein Herz krampft. Ich fühle mich mitschuldig. Auch, wenn ich nie etwas gesagt oder getan hatte. Vielleicht auch genau deshalb.
»Verzeiht mir.«
Sie streichelt mir sanft über das von getrocknetem Schlamm verklebte Haar.
»Deine Mutter, sie ist krank, nicht wahr?«
Mutter! »Ich muss zu ihr!« Ich versuche aufzustehen. Sie drückt mich vorsichtig zurück. »Das wirst du, aber nicht mit der Medizin.«
»Bitte lasst mich gehen.«
»Dann wird sie sterben.«
Plötzlich ist da keine Luft mehr zum Atmen. Meine Hand greift an meine Brust, verkrallt sich in dem Stoff.
Etwas drückt meine Schultern. Die Kräuterfrau, ihre Hände liegen noch auf. Sie atmet ein und wieder aus, starrt mir dabei in die Augen. Zitternd versuche ich es ihr gleichzutun. Der erste Luftstoß erfüllt meine Lungen. Dann ein weiterer und noch einer. Meine Hand löst sich und fällt erschöpft in meinen Schoß. Tränen rinnen meine Wangen hinab. Sie lockert ihren Griff und holt die Medizin aus meinem Korb. Sie öffnet das Fläschchen, hält es mir unter die Nase. »Riech.«
Vorsichtig schnuppere ich daran.
»Was riechst du?«
Ich schüttle den Kopf. »Nichts.«
»Nur Wasser.« Sie stellt es zur Seite und entfernt sich von meinem Lager. Bedächtig zupft sie mal hier, mal da ein paar getrocknete Pflanzenteile aus den Bündeln, die von der Decke hängen. Sie geht weiter zur Feuerstelle, dann zu dem Regal, das etwas entfernt davon steht. Das Licht ist fahl, ich erkenne nicht was darin ist. Geklimper ist zu vernehmen, dann kommt sie zurück.
In der einen Hand hält sie ein gefülltes Fläschchen, in der anderen ein pralles Stoffsäckchen.
»Was ist das?«
»Echte Medizin.«
Sie erklärt mir, was ich zu tun habe. Ich möchte mehr wissen, doch sie sagt alles habe seine Zeit. Dann bei Tagesanbruch zeigt sie mir den Weg zurück ins Dorf.
Ich sehe unsere Hütte, stürme ins Innere.
»Mutter!«
Sie liegt auf ihrem Lager, in Decken gehüllt. Ihr glasiger Blick schnellt zu mir. »Mein Kind.«
Sie ist schwach, ihre Stimme brüchig. Schnell gebe ich ihr die Medizin der Kräuterfrau und hoffe auf ein Wunder.
Ein halber Mondlauf ist vergangen und Mutter vollständig gesundet. Seitdem hoffte ich jeden Tag, die Kräuterfrau in unserem Dorf zu sehen, doch sie kam nicht.
Nun wate ich wieder durch das Unterholz, wie damals, als mich die Wölfe verfolgten. Nur dieses Mal, kenne ich meinen Weg.
Das feuchte Blatt eines Strauches streift über meine Wange, dann eröffnet sich mir die Lichtung mit ihrer Hütte. Sie sitzt auf der alten Holzbank, die vor ihrem Heim steht. In ihren Händen ein Korb, den sie gerade flechtet. Sie nickt, schenkt mir ein warmes Lächeln. Sie weiß, warum ich zurück bin. Es ist Zeit.

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