Hexenpost

Spiritualität - Umwelt - Gesellschaft

Schattenwald



Der erste Sonnenstrahl bricht durch die rabenschwarze Wolkenschicht. Ich schnappe mir eine Jacke und gehe beschwingt durch die Türe. Während die Glöckchen, die ich zum Schutz am Türgriff befestigt habe, sanfte Töne in die Welt hinausschicken, fühle ich eine unbändige Vorfreude in mir. Wer freut sich schließlich nicht, wenn man unterwegs liebgewonnene Freunde treffen wird? Besonders wenn sie mit einem leisen „Klong“ auf den Laternen entlang des Wegs landen und mit ihren klugen und mystisch funkelnden Augen auf einen hinabschauen – so als ob sie ganz tief in meine Seele blicken könnten? Und mit einem freudigen Ausdruck in ihren Augen. Wahrscheinlich weil sie genau wissen, dass ich ihnen auch dieses Mal den Erdnuss-Wegzoll nicht verwehren werde. Schließlich geht Liebe durch den Magen. „Voll bepackt mit tollen Sachen, die die Krähen glücklich machen“ summe ich leise vor mich hin, während ich einige Erdnüsse für die beiden Rabenkrähen Susi und Strolch fallen lasse. Ach, wie ich die kleinen Racker liebe!Ob es auch andere Menschen in meiner Umgebung gibt, die eigentlich aus fast jeder ihrer Jackentaschen Nüsse zaubern können? Ich fürchte fast, diesen Trick beherrsche nur ich. In einer idealen oder zumindest in einer ursprünglicheren Welt wäre es vielleicht gar nicht notwendig, Wildtiere zu füttern. Aber der Insektenschwund und unsere aufgeräumten Gärten und die Betonwüsten, die sich Städte nennen, treffen unsere Tierwelt hart. Auch die Igel können davon ein Lied singen. Eine traurige Ballade, leider. Und ich kann nur meinen kleinen Beitrag leisten und ein wenig zufüttern, denke ich, während ich die geliebten Krahs an ihrer Reviergrenze zurücklasse – natürlich kulinarisch gut versorgt.Weiden wechseln sich mit Wiesen und Feldern ab, bis ich schließlich zu den Ausläufern eines kleinen Waldgebietes komme. Zum Glück führt der Weg daran vorbei. Offene Naturlandschaften sind mir deutlich lieber. Weit sehen und gesehen werden.Ich werde schon sehnlich von Wendy und Linus und weiteren Krähen erwartet. Sie sitzen wie perfekt aufgereihte Perlenschnüre auf den Begrenzungspfählen einer Weide, die sich an das Waldgebiet anschmiegt. „Na, heute schon gekräht?“ frage ich sie scherzhaft. Wohl wissend, dass es vermutlich nur mir alleine ein Schmunzeln entlockt, weil ich dabei natürlich heimlich an einen Hahn auf dem Mist denken muss. Gut, dass sie nicht merken, dass ich mich ein ganz klein wenig über sie lustig mache. Was sich liebt, das neckt sich eben manchmal.Doch irgendwas ist heute anders. Es liegt in der Luft. Ich kann es spüren. Eiskalt läuft es mir über meinen Rücken. Eine Wolke schiebt sich über die Sonne, die Welt wird merklich dunkler. Auch die Krähen beginnen plötzlich unruhig mit ihren Flügeln zu flattern und blicken wachsam umher. In der Ferne ruft ein Kuckuck. Dann - nichts. Kein Wind, kein Flugzeug, kein Grundrauschen der Autobahnbrücke, das der nahegelegene Fluss normalerweise kilometerweit in diese Gegend trägt. Hier ist es eigentlich nie wirklich leise. Und jetzt, Grabesstille. Unheimlich!Mit einer fahrigen Bewegung werfe ich einige Erdnüsse auf den Boden und gehe weiter.  Ich blicke zurück. Nicht eine einzige Krähe hat sich von der Stelle gerührt. Nicht eine einzige krächzt ihr typisches „Krah-Krah-Krah“.Was um Himmelswillen ist hier los? Ich möchte am liebsten nach Hause laufen, schnell wie der Wind, nur weg von hier! Gleichzeitig scheint mich eine unsichtbare Macht dort festzuhalten. Was soll ich nur tun? So ratlos habe ich mich noch nie gefühlt.Plötzlich höre ich ein Murmeln… kommt es von den Krähen? Vom Fluss? Aus den Wäldern oder von dem riesigen uralten Pappelbaum, der inmitten der Weide steht, eingezäunt und unerreichbar für mich? Das Murmeln wird lauter. Ich stelle meine Sinne fein, versuche zu erspüren, ob das Murmeln für mich oder gegen mich ist. Ich meine Wortfetzen zu vernehmen… „Verwurzeln“ kommt aus Richtung des Baums. „Hoch hinaus“ von den Krähen, „Fließen“ vom Fluss.Und ich erinnere mich. Weiß, was zu tun ist. Ich will die Erde spüren. Weg mit den Schuhen! Schließe meine Augen. Achte auf den Atem. Ein, aus. Ein, aus. Und dann atme ich mich in die Erde. Mit meiner Aufmerksamkeit folge ich Lichtwurzeln, die ich gedanklich tief hinein in die Erde schicke. Hindurch durch die fruchtbare Erde, durch funkelnde Kristallschichten, durch unterirdische Quellen, immer tiefer und tiefer bis zum Mittelpunkt der Erde. Dort verankert, spüre ich, wie goldene Licht-Energie der Erdenmutter zu mir fließt. Das Licht flutet mich und mit einem Teil meiner Aufmerksamkeit fließe ich nun über einen Lichtkanal hoch hinaus, durch helle Lichtschichten, durch dunkle Lichtschichten, hinein in strahlend weißes Licht, mit dem ich verschmelze. Ich spüre, wie dieses Licht der reinen Liebe in meinen physischen Körper fließt. Wo es sich mit dem goldenen Licht der Erdenmutter in meinem Herzen vereint, mich völlig ausfüllt.„Was ist zu tun?“ Ich stelle diese Frage laut. Sie dröhnt schwer in meinen Ohren, doch ich muss nicht lange warten, bis ich Antwort wie aus einer anderen Welt bekomme: „Finde SIE“. Dann reißt der Kontakt mit einem Mal ab und ich befinde mich wieder jäh im Hier und Jetzt. Ich weiß nicht, wo mir der Kopf steht. Habe ich mir das alles nur eingebildet? So etwas habe ich noch nie erlebt. Doch meine Schuhe liegen vor mir auf dem Boden, die Erdnüsse ein paar Meter weiter immer noch unangetastet und die Krähen – sie starren mich an, alle auf die exakt gleiche unwirkliche Weise. Ich versuche den Bann zu brechen, in dem ich mir meine Schuhe anziehe. Es funktioniert. Als ich wieder aufblicke, schwingen sich die Krähen synchron in die Luft und fliegen Richtung Wald. Direkt hinein. Das habe ich so noch nie gesehen. Seufzend folge ich ihnen. Was soll ich auch sonst tun?Im Wald ist es noch dunkler. Kein Ast bewegt sich, hier und da ist ein leises Knacken zu hören. Schleicht jemand durch das Unterholz? Die Krähen sind nirgendwo zu sehen. Ich fühle mich dennoch beobachtet. Natürlich kann ich niemanden entdecken. Und überhaupt – erfüllt nicht normalerweise das Singen von Vögeln den Wald? Hier gehen eindeutig seltsame Dinge vor sich und ich weiß nicht, ob ich mehr darüber raus finden will. Unwillkürlich berühre ich mein Herz. Es klopft wie verrückt und ich frage mich wirklich, was ich hier tue. Ich berühre meinen Rosenquarzanhänger, den ich normalerweise trage, um in einen guten Kontakt mit Tieren zu kommen. Besser wäre heute mein schwarzer Turmalin für Schutz gewesen, denke ich. Doch es nützt nichts und so bleibt mir nur, in Gedanken einen Lichtkreis zu ziehen und visualisiere einen Gargoyl und bitte ihn, auf mich aufzupassen. Zu guter Letzt erschaffe ich in Gedanken noch ein mächtiges Schutzzeichen. Das muss fürs erste reichen.Da! Ein Knacken direkt hinter mir! Ich fahre herum, erwarte das Schlimmste. Vor mir in Augenhöhe sitzt ein vorwitziges Rotkehlchen und mustert mich neugierig. „Hast du mich erschreckt“ murmele ich. „Entschuldige bitte, das wollte ich nicht“ antwortet es. Wie bitte?! Ich falle aus allen Wolken. Es scheint mir den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Werde ich nun vollends verrückt? Ein sprechendes Rotkehlchen. Was kommt als nächstes? Ein singender Hirsch? Aber nein, das ist Quatsch. So stadtnah gibt es weit und breit keine Hirsche. Nur offensichtlich sprechende Rotkehlchen. Es breitet seine Flügel aus und beginnt sich um sich selber zu drehen. Wenn ich das jemanden erzähle…Träume ich? Probeweise kneife ich die Augen fest zu und zwicke mich. Sicher ist sicher. Als ich meine Augen wieder öffne, ist das Rotkehlchen verschwunden und stattdessen schwebt SIE vor mir. Die schönste Waldfee, die man sich nur vorstellen kann. Ich habe sie gefunden! „Hör mir zu“ beginnt sie. „Es eilt. Ich weiß, es muss verwirrend für dich sein. Aber dies ist keineswegs ein Traum. Du hast dich ja gerade gezwickt und es hat nichts genutzt, du bist noch immer hier“ fügt sie leicht spöttisch hinzu. „Wir brauchen deine Hilfe!“ fährt sie fort. „Wir, die Bewohner des Waldes. Ein Schattenwesen treibt hier sein Unwesen und du kannst uns helfen, das Licht zu bringen!“ „Iiiiiicccch?“ stammel ich ungläubig. „Ja, du. Du hast es in dir. Finde die Hexe in dir, die du bist und rette uns!“ „Wie denn das bloß? Und überhaupt, eine Hexe? Bin ich wirklich eine Hexe? Kann ich tatsächlich Magie wirken?“ frage ich sie, auch um Zeit zu gewinnen. „Natürlich. Manche durch Gaben, manche durch Wissen, manche durch Übung. Alles ist Energie. Energie folgt der Aufmerksamkeit, Magie kanalisiert die Aufmerksamkeit.“ Das alles kommt mir bekannt vor. Habe ich unzählige Male gelesen. „Was muss ich tun?“ frage ich nun mit etwas festerer Stimme. „Licht ins Dunkle bringen. Wo Licht ist, ist auch Schatten, wo Schatten ist, muss auch Licht sein“. Und schon schwindet die Fee, scheint immer mehr zu verblassen. Zurück bleibt die Gestalt des Rotkehlchens, das einmal um meinen Kopf fliegt und dann irgendwo im Wald verschwindet. Und sogleich nehme ich eine dunkle Präsenz wahr. Das Schattenwesen! Mich fröstelt. Wie von selbst lasse ich meinen Schutzkreis heller leuchten.Eine der Krähen kommt wie aus dem Nichts zu mir und setzt sich neben mich. Ich berühre meinen Rosenquarz und plötzlich fühle ich mich in andere Welten getragen. Vor meinem inneren Auge kann ich sehen, wie die Krähe ins große Nichts fliegt, ins Jenseits. Eine Sekunde vergeht, die mir wie eine Ewigkeit vorkommt. Eine zweite Sekunde vergeht, als die Krähe wieder erscheint. Unversehrt und lebendiger denn je. Sie hat eine Botschaft für mich. „Du musst deine Schatten annehmen. Nimmst du deine Schatten an, nimmt sich die Welt deiner Schatten an. Nimmt sich die Welt aller Schatten an. Nimm dich selber an! Wie innen so außen, wie außen, so innen“.Leichter gesagt, als getan. Meine Schatten verbergen sich schließlich sicher in den Untiefen meines Wesens und manche entziehen sich meinem Bewusstsein! Doch dann  höre noch eine leise Stimme, die wie meine eigene klingt: meine innere Weisheit „Es darf auch leicht gehen!“ Und dann begreife ich. Habe ich mich etwa meinen Schatten bereits gestellt, ohne es zuvor gemerkt zu habe?Staunend blicke ich um mich. Mir wird bewusst: Ich stehe hier im Wald. Wo ich alleine niemals zuvor einen Fuß hineingesetzt habe. Aus purer Angst – wer weiß schon, was in dunklen Wäldern lauert? Und nun kommuniziere ich mit Tieren auf geistigen Ebenen, was ich nie für möglich gehalten hätte. Und ich habe tatsächlich Magie verwendet, um mich zu schützen – trotz meiner Zweifel, ob ich das kann oder darf. Ich fühle mich wie befreit, als tatsächlich ein Lichtstrahl durch die Wipfel fällt und warm auf meine Haut scheint. Es ist alles so wie immer, die Vögel zwitschern, die Zweige bewegen sich sanft im Wind – und doch ist alles anders. Das beklemmende Gefühl verschwunden, die Präsenz des Schattenwesens weg. Und ich? Fühle mich auf eine neue, wunderbare Weise verbunden mit der Welt und dem was ist. „Warte nur“, rufe ich Linus zu, der sich gerade in die Lüfte schwingt und sicher durch die Bäume navigiert. „Ich habe doch noch eine ganze Ration Erdnüsse“. Denn eins weiß ich – manche Dinge ändern sich eben nie. :)

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