Hexenpost

Spiritualität - Umwelt - Gesellschaft

Mit dem Herzen sehen

 



Wir hatten das Land unserer Träume unter unseren Füßen. Die Sonne färbte den Himmel orangerot. Sie schien hinter dem kargen Feld zu versinken und verlieh dem kränklichsten Grashalm einen hellgrünen Glanz. Die wenigen Wolken zogen einen violetten Schleier hinter sich her. So sahen wir zum Himmel, auf dem Stroh der Ladefläche liegend, die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Das hustende Motorengeräusch des alten Wagens übertönte das wilde Schlagen unserer Herzen. Unsere Gefühle fuhren Achterbahn. Wir waren aufnahmebereit für alles: für das Krächzen der schwarzen Vögel über unseren Köpfen, für das Zirpen aus dem Feld, die leichte Böe, die den Sand aufwirbelte, für das Rutschen des Wagens auf dem staubigen Weg. Dinge, die sonst achtlos an uns vorbeigezogen waren. Der Wagen stotterte und gab undefinierbare Geräusche von sich. Ich richtete mich auf, rollte mein Shirt über den Bauch und ließ mich von der letzten Abendsonne wärmen. Wir waren endlos lange gewandert, nachdem wir den kleinen Flugplatz verlassen hatten. Wir hatten mit Staubkörnchen zwischen den Zehen getanzt. Doch dann waren wir froh gewesen, als dieser alte Jeep in der Prärie auf uns zu gekommen war. Eine blasse Frau mit schwarzem Haar hatte sich aus dem Fenster herausgelehnt. Ihre Stimme hatte fremdartig geklungen. Harte, markante Gesichtszüge und Narben auf der Stirn hatten ihr Gesicht streng und erfahren wirken lassen. Nun befanden sich unsere müden Füße in ihrem Jeep. Das Kreischen dieser Vögel wurde lauter. Die Frau drehte sich zu ihrem Beifahrer, einem blassen Jungen von etwa acht Jahren um. Er hatte schwarzes Haar und schaute ängstlich drein. Der Wagen setzte sich in Bewegung, als wir auf dem Strohhaufen auf der Ladefläche Platz nahmen. Wir sahen uns skeptisch an. War es richtig, hier mitzufahren? Aber dieser Wagen vermochte es, uns rausbringen aus dieser tiefsten Prärie. Die nächste Stadt lag sicher vor uns. Plötzlich stoppte das Auto ruckartig mit einem lauten Krachen. Wir fielen rücklings von den Strohballen. Fragend richteten wir uns auf. Die Alte öffnete die quietschende Tür, die nun schräg herabhing. Sie schlurfte in einem langen Rock über den Zuckersand und beugte sich zu uns hinüber, um uns ihren Arm anzubieten. Er war dünn und zeigte ihre Adern. Zögernd griff ich nach ihrer Hand und sie half mir und Steffi von der Ladefläche herunter, ehe sie in die Ferne zeigte und mit dem Fuß gegen den Wagen stieß. Der kleine Junge stellte sich hinter sie. Er reichte ihr einen Strickbeutel mit klapperndem Inhalt. Sie drückte ihn an ihre Brust. Wieder und wieder musterte uns die Frau und deutete mit dem Finger in den Osten. Dort schien weit und breit nur braches Land zu sein. Das Auto hatte also seinen Geist aufgegeben und wir sollten mit ihnen zu Fuß weiterziehen. Sie schlurfte los mit der Abendsonne im Nacken. Der Kleine tat es ihr gleich. Schweigend sahen wir hinterher. Sie ließen den Wagen einfach zurück. Sollten wir ihnen folgen? Sicher waren sie Einheimische und konnten uns zur nächsten Stadt führen. Oder befanden wir uns in Gefahr? Sie rief uns etwas entgegen und zeigte wieder gen Osten. Wir griffen unsere Rucksäcke und folgten ihr eilig. Der Sand gab unter unseren Füßen nach. Eine endlose Zeit trotteten wir wortlos hinter den Beiden her. Die Sonne war bereits untergegangen und eine sanfte Kühle erfrischte uns. Wir konnten uns nur noch als Umrisse erkennen. Die schwarzen Vögel begleiteten uns weiterhin lautstark. Bald zeigten sich die ersten Sterne während unseres Marsches. Wo mochten wir sein? Wo war die nächste Stadt? War Trampen keine gute Idee gewesen? Der Tascheninhalt der Frau klackerte bei jedem Schritt. Der Junge schien uns zu fürchten, wie wir ihn und seine vermeintliche Mutter. Plötzlich warf sich die Alte auf den Boden. Sie begann laut zu schreien! Ja, sie heulte regelrecht auf! Erschrocken wichen wir zurück. Wild schlug sie die Tasche in den Sand und presste ihr Gesicht in die Erde. Sekundenlang verharrte sie so, bis sie sich wortlos erhob und ihren Weg fortsetzte, als wäre das gerade nicht passiert. Fassungslos und von Angst erfüllt, fassten Steffi und ich uns an den Händen. Die Alte schwang ihren Beutel. Wir wollten zurück. Doch wohin sollten wir? Uns blieb nur übrig, uns in dieser Steppenlandschaft weiter von ihnen führen zu lassen. Und so trotteten wir mehr als aufmerksam weiter hinter den Beiden her, bis wir einen spärlichen Wald erreichten.  Ich nahm riesige Bäume als bedrohliche Schatten wahr. Ich zuckte zusammen als wir uns zwischen den wild gewachsenen Gehölzen hindurchschleppten. Die Erde war hier feucht, steinig und glitschig. Ich krallte meine Finger in Steffis Arm. Wir erreichten einen ebenen Platz, an dem das Mondlicht badete. Nun konnten wir einander gut sehen. Die Alte zeigte auf nassen, sumpfigen Boden. Wollte sie uns damit sagen, das wir hier die Nacht verbringen würden? Eine Stadt würden wir wohl heute nicht mehr  erreichen. Steffi nahm ihren Rucksack von den Schultern und zog unser Zelt heraus. Mühevoll breiteten wir es aus und versuchten vergeblich, die Halterungen in dem nassen Boden zu befestigen. Die Alte schüttelte den Kopf über uns, während der Kleine anfing, große ovale Blätter zusammenzutragen. Haufenweise schüttete er sie nebeneinander auf, während die Alte wieder begann laut zu summen und ihren Beutel in die Höhe zu halten. Steffi klammerte sich an mich. Ich zuckte zusammen. Mein Herz raste. Der Junge zeigte auf die Blätter und legte sich nieder. Steffi und ich setzten uns wortlos, dicht beieinander hinzu und ließen nicht voneinander ab. Das leise Rascheln von Blättern und die Geräusche umherlaufender, fremder Tiere hielten uns wach. Angestrengt lauschten wir. Stunden später saßen wir noch immer zitternd nebeneinander. Gänsehaut breitete sich auf unseren Körpern aus, während es kühler wurde. Die Alte und der Kleine schienen zu schlafen. Dennoch hörten wir ein leises Knurren, das Knurren ihrer Mägen? Wie lange mochten sie nichts gegessen haben?
„Wie spät es jetzt wohl ist?“ Vorsichtig tastete Steffi im Halbdunkel nach ihrem Rucksack, doch sie erwischte den filzigen Beutel der Alten. Schreiend zog sie ihre Hand zurück. Sie sprang auf und kreischte hysterisch. „Da sind Knochen drin! Hier verbring ich keine Minute mehr!"
In mir drehte sich alles. Hatte sie „Knochen“ gesagt? Steffi griff nach ihrem Rucksack und zog mich mit sich. „Lass uns abhauen! Sonst landen unsere Knochen bald in dem Beutel!" Mein Mund war noch immer weit offen. Wir liefen in das Buschwerk hinein. Bis.. Steffi fiel und riss mich mit sich.. Wir rollten und rutschten eine steinige Fläche hinab. Minuten. Schließlich blieben wir reglos liegen. Ich hatte fürchterliche Schmerzen. Steffi antwortete mir nicht. Irgendwann fiel ich in einen tiefen Schlaf.
Das frühe Sonnenlicht und das Gezwitscher vieler Vögel weckten mich. Erschrocken fuhr ich hoch und drehte mich zu Steffi um. Sie lag da, bekleidet mit einem Tierfell. Wo kam das her? Steffi?! Lebte sie? Langsam hob sie den Kopf. Verzweifelt sahen wir uns an. Ich konnte mich nicht bewegen. Plötzlich raschelte es hinter uns auf dem feuchten, steinigen Boden. Die Alte kam! Ich versuchte mich aufzurichten, doch der Junge hielt mich nun mit einer Hand am Boden und schüttelt abwehrend den Kopf. Die Frau beugte sich zu mir herunter. Sie zerriss den Stoff meiner Hose. Vorsichtig schmierte sie eine dickflüssige, zähe Substanz auf mein blutendes Knie. Es fühlte sich gleich frischer an. Es schien den Schmerz zu betäuben. Erst jetzt stellte ich fest, dass ich auf einer Holztrage lag. Hinter mir erhob sich ein Berg. Die Alte reichte mir einen Kanten Brot und eine Schüssel Wasser, während Steffi sprachlos daneben stand und körperlich in Ordnung zu sein schien. Plötzlich drehte sich alles um mich herum. Ich wurde ohnmächtig. Ich kam wieder zu mir, als ich das Rufen der Alten vernahm. Es schien verzerrt zu mir zu dringen. Ich blickte hoch zu den Sternen, bis ich erst Stunden später merkte, dass ich noch immer auf der Trage lag. Sie bewegte sich. Die Frau und der Junge trugen mich einen Felsen hinauf! Wo war Steffi? Vorsichtig tätschelte die Alte meine Wange und liebkoste meine Stirn. Ich war zu erschöpft, um darüber nachzudenken. Ich hatte keine Schmerzen, keine Angst, kein Gefühl, ich sah nur diese Herrlichkeit von Himmel über mir, die mich wieder einschlafen ließ. Ich erwachte, als die Sonne heiß auf meiner Haut brannte. Ich war hoch oben auf einem Felsen. Leichter Nebel umgab mich. Ich entdeckte Steffi, den Kleinen und die Alte dort vor einem Abhang. Ein kurzer stechender Schmerz zog beim Aufrichten durch mein Bein. Ich humpelte zu ihnen herüber. Ich fühlte mich trotz des Unfalls sonderbar erholt. Die Drei saßen über etwas gebeugt. Über einem Grabstein! Behutsam legte die Alte einen Knochen nach dem anderen um einen Hügel und schluchzte kaum hörbar. Immer wieder wiederholte sie etwas, das wie Flüche klang. Der Junge legte seinen Kopf auf ihre Knie und legte ein Foto dazu. Das Foto zeigte ein kleines Mädchen mit pechschwarzem Haar. Betend richtete die Alte ihre zerbrechlichen und doch so starken Hände zum Himmel. Sie weinte! Hatte sie hier ihre Tochter begraben müssen? Wortlos legte ich meinen Arm um sie. Und plötzlich fühlte ich weitaus mehr als Wärme und Verständnis. Der Kleine zeigte nach unten ins Tal. Dort war eine Stadt! Sie hatten uns wirklich in die Zivilisation gebracht. Reglos starrten wir hinunter, atmeten tief ein schlossen für einen Moment die Augen. Die Alte streifte sanften Nebel aus meinem Haar und machte sich wortlos an den Abstieg mit ihrem Jungen. Sprachlos starrten wir auf sie und auf das kleine Grab des Mädchens. Noch einmal blickte die Frau uns an und in diesem Moment überzog ein Lächeln ihr Gesicht. Sie zwinkerte uns zu und es war, als würde sie ein Lichtschein umgeben. Sie deutete auf mein Knie und jede Wunde war wie weggeblasen. War sie eine Hexe? Wir hatten Böses in dieser Fremden vermutetet, sodass wir das Gute nicht sahen. Wir hatten sie stumm verschmäht, obwohl sie uns alles gegeben hatte: Obhut, Wärme, Kraft und Güte. Und als wir nun noch einmal zu ihnen blickten, waren sie verschwunden. Zurück blieb ein Nebel, der viel heller war als noch vor ein paar Sekunden. Definitiv war das eine besondere Begegnung. Was immer kommen mochte, demnächst würden wir tiefer schauen und vielleicht entdecken wir eines Tages noch einmal die eine oder andere gute Hexe, die unsere Wege begleitet.

 

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