Hexenpost

Spiritualität - Umwelt - Gesellschaft

Ein Dorf in Nöten


 

Die Not war groß in diesen Tagen, ein schrecklicher Fluch schien über dem Ort zu liegen. Drei Jahre hintereinander gab es Missernten, durch Regen, Hagel und Dürre.
Ein Jahr danach wuchsen die Früchte wieder in Hülle und Fülle, doch als die Zeit der Ernte gekommen war, tauchte ein großer Drache auf. Mit seinem Feueratem versengte er alle Feldfrüchte und verschwand. So kam es, dass sie auch in diesem Jahr kaum genug zum Überleben hatten.
Von da an kehrte der Drache jedes Jahr wieder. Die Menschen versuchten alles, ihn zu vertreiben, zu fangen oder zu töten, doch niemand konnte ihn bezwingen. Es schien als ob der Drache von Jahr zu Jahr größer, mächtiger und grausamer wurde. Sie fürchteten, sie müssten bald alle des Hungers sterben.
Einmal, kurz bevor die Zeit der Ernte kam, saß Alea mit ihrer Großmutter abends am Tisch. Das Mädchen beobachtete, wie die Alte sorgenvoll aus dem Fenster blickte.
„Glaubst du, der Drache kehrt auch dieses Jahr zurück“, fragte Alea zaghaft und die Alte nickte. „Ja, das glaube ich“, erwiderte sie. „Die Hoffnung schwindet, von Jahr zu Jahr mehr ihn zu vertreiben.“
„Gibt es denn wirklich niemanden, der helfen kann?“ fragte das Mädchen.
Eine ganze Weile schwieg die Großmutter, sah ihre Enkelin durchdringend an und antwortete zögernd: „Vielleicht gäbe es jemanden.“ Neugierig sah Alea sie an. „Von wem sprichst du?“
Wieder schwieg die Alte eine ganze Weile, dann aber erwiderte sie: „Vielleicht könnte Bente helfen. Als ich noch ein Mädchen war, lebte sie hier. Sie war anders als wir, sie sprach mit Vögeln, unterhielt sich mit dem Bach und wusste, obwohl sie selbst noch ein Kind war, so viel über Kräuter und Pflanzen. Vielen war sie unheimlich. Einmal brach eine schwere Seuche aus, viele starben. Ich weiß nicht warum, doch sie glaubten Bente wäre schuld daran, sie sagten, sie sei eine Hexe, die unser Dorf verflucht hätte. Der Ältestenrat beschloss sie zu töten. Noch ehe die Häscher sie am nächsten Tag fangen konnten, war sie verschwunden. Niemand hat sie seitdem wiedergesehen.“
„Glaubst du, sie war an dieser Seuche schuld?“
Energisch schüttelte die Alte den Kopf: „Niemals! Bente liebte alles Leben, nie hätte sie irgendetwas getan, das Leid über uns brachte. Niemals!“ Damit erhob sie sich, ging zur Truhe die neben ihrem Bett stand und holte einen tropfenförmigen, silbernen Anhänger heraus, in den der Name Bente eingeritzt war. Diesen legte sie vor Alea auf den Tisch. „Bevor sie ging, tauschten wir unsere Anhänger, Bente ließ ihren da und nahm den meinen mit. Ich bin mir fast sicher, sie könnte uns helfen.“
Nachdenklich nahm Alea den Anhänger in die Hand und betrachtete ihn: „Ihr ward die aller besten Freundinnen, habe ich Recht?“
Die Alte lächelte wehmütig und schüttelte den Kopf, „Nein, das waren wir nicht. Bente ist meine Schwester.“
Alea blickte ihre Großmutter an: „Ich kann mich auf den Weg machen, sie zu finden. Doch ich weiß nicht, wo ich suchen soll.“
„Ich auch nicht“, gestand die Alte. „Doch Bente sagte immer, dass wir nur unserem Herzen folgen müssen und tief in uns spüren würden, welchen Weg wir einschlagen sollen. Ich glaube fest daran, dass du das schaffst.“ Sie schwieg eine Weile und fuhr dann fort: „Nimm den Anhänger mit, damit Bente weiß, ich habe dich geschickt.“
Am anderen Morgen, machte Alea sich auf den Weg. Sobald sie an eine Kreuzung kam, nahm sie den Anhänger in die Hand und spürte tief in sich hinein, wohin sie sich wenden sollte. Sechs Tage lang wanderte sie so durch Täler und über Berge, vorbei an Wiesen und Felder, über Flüsse und Bäche. Am siebten Tag erreichte sie einen lichten Wald. Am Abend entdeckte sie ein kleines Haus, umgeben von einem kleinen Garten. Noch ehe sie anklopfen konnte, rief es von innen: „Tritt nur herein.“
Alea öffnete die Tür und betrat die Stube. Eine alte Frau saß in einem Sessel vor dem Kamin, winkte sie näher und deutete auf einen zweiten Sessel. „Setzt dich und erzähle mir, warum du aufgebrochen bist.“
„Ich suche Bente, die Schwester meiner Großmutter“, sagte das Mädchen.
Da lächelte die Alte. „Du hast mich gefunden“, erwiderte sie. „Was ist geschehen?“
Alea holte den Anhänger heraus. Bente nahm ihn entgegen und das Mädchen begann zu erzählen: Von den Missernten, vom Drachen und vom Hunger. Bente hörte ihr aufmerksam bis sie mit Worten „Könnt ihr uns helfen?“ endete.
„Das wird nicht so einfach gehen“, murmelte Bente und sah das Mädchen durchdringend an. "Bleib diese Nacht bei mir, Morgen früh werde ich Rat wissen.“
Die Alte gab ihr zu essen und wies ihr einen Platz zum Schlafen zu.
Als das Mädchen schlief, verließ Bente ihr Haus und wanderte bis zum verborgenen Teich, der vom vollen Mond beschienen wurde und dessen Wasser seltsam glitzerte. Ganz aufrecht stand sie da, blickte auf das dunkle Nass und rief: „Geister des Wassers, hört mein Rufen, lasst mich wissen, was ich nun wissen muss.“
Augenblicklich stieg Nebel auf und bildete seltsame, schemenhafte Wesen, die im Wind zu zerfließen und sich stetig neu zusammenzusetzen schienen. Dabei lag ein Murmeln über dem Wasser, ganz leise, ein Wispern nur, doch Bente verstand jedes Wort. Mit einem Male verstummte das Gemurmel, die Neben fielen in sich zusammen und der Teich lag da wie zuvor: mondbeschienen und seltsam glitzernd.
„Ich danke euch, Geister des Wassers“, rief sie und verbeugte sich tief. „Habt Dank für eure Hilfe.“
Am anderen Morgen winkte Bente Alea an den gedeckten Tisch und forderte sie auf, sich zu setzen und zu stärken. Als die beiden gegessen hatten, erklärte die Alte: „In eurem Dorf herrschen Angst, Misstrauen, Missgunst und jeder denkt nur an sich. So habt ihr einen Drachen angezogen, der sich von diesen Gefühlen ernährt. Wenn er eure Feldfrüchte verdirbt, so schürt er nur noch mehr diese Gefühle und sichert sich seine Nahrung. Will man ihn vertreiben, so müssen die Menschen sich ändern.“
„Also gibt es keine Hoffnung“, fragte Alea verzagt und die Alte erwiderte: „Hoffnung gibt es immer, Alea. Tief in den Bergen gibt es einen Ort, an dem viele weiße Kristalle sind. Ihnen wohnt eine besondere Macht inne. Ich gebe dir eine Karte, ziehe aus und hole zwei Kristalle. Doch sobald du das Gebirge erreichst blicke nicht zurück, was auch geschieht, ehe Du die Kristalle in den Händen hältst, egal was auch geschieht. Ich werde hier auf dich warten und alles andere vorbereiten.“
Alea nickte zustimmend und marschierte los. Tagelang wanderte sie durch Wälder und Felder, ehe sie das Gebirge erreichte. Sie war erst wenige Schritte gegangen, da hörte sie ein Ächzen und Stöhnen hinter sich und sie musste sich zwingen, nicht weiter zu gehen. Das Ächzen legte sich, dafür beschlich das Mädchen das Gefühl, als würde ein schwarzer Schatten ihr folgen. Schon wollte sie sich umdrehen und nachsehen, da fiel ihr ein, dass sie nicht zurückschauen sollte. Das Gefühl verschwand und machte erst einer sengenden Hitze, dann einer eisigen Kälte in ihrem Rücken Platz. Doch sie ging unbeirrt weiter bis sie schließlich in einen fast kreisrunden Taleinschnitt gelangte. Dort befanden sich unzählige weiße Kristalle. Schnell hob sie zwei auf und steckte sie sich in die Tasche und machte sich auf den Rückweg.
Bente hatte inzwischen alle Vorkehrungen getroffen und erwartete Alea schon. Gemeinsam gingen sie zurück in das Dorf. Dort schritt Bente direkt auf den Dorfplatz in der Mitte zu, holte Kräuter und Blumen heraus und streute sie kreisrund auf den Boden. Dann stellte sie einen Kristall in die Mitte.
Während sie alles vorbereiteten, kamen die Dorfbewohner zusammen und umringten sie. Angst und Misstrauen spiegelten sich in den Augen. Schon begannen sie zu tuscheln, sie sei eine Hexe, die sie alle verderben wollte. Bente aber lies sich nicht beirren. Sobald sie fertig war, richtete sie sich auf und sah den Menschen in die Augen. „Ich bin Bente, jenes Mädchen, das eure Väter und Großväter vor langen Jahren hatten hinrichten wollen, weil sie anders war. Heute bin ich gekommen, um euch von dem Drachen zu befreien, den ihr selbst mit eurer Angst, eurem Misstrauen und eurer Missgunst angezogen habt. Wenn ihr wieder frei sein wollt, so lasst mich gewähren.“
Da trat ein alter Mann vor, blickte sie nachdenklich an und sagte: „Ich erinnere mich an Bente, sie liebte alles Leben. Ich glaube nicht, dass sie für die Seuche verantwortlich war. Lasst sie gewähren, wir können den Drachen nicht besiegen, doch vielleicht kann sie es.“
Niemand wiedersprach und so begann Bente zu murmeln. Der Kristall begann zu Leuchten. Plötzlich lösten sich dunkle Schatten aus den Körpern den Menschen, doch nur Bente und Alea sahen sie. Die Schatten wurden in den Kristall gezogen und lösten sich auf. Die Leute spürten nur wie etwas Schweres sie verließ. Als keine Schatten mehr übrig waren, tauschte sie den Kristall gegen den zweiten aus und begann wieder zu murmeln. Auch dieser Kristall begann zu leuchten und sanftes, weiches Licht auszustrahlen. Er strahlte, bis sein Licht alle Menschen, alle Häuser, ja das ganze Dorf einhüllte und jeden, den das Licht erfüllte, spürte einen tiefen Frieden ins sich. Noch immer leuchtend nahm Bente den Kristall in die Hände, reichte sie dem alten Mann und sagte: „Setzte ihn in eine Laterne und hänge sie hoch über dem Dorf auf, damit das Licht alles erfüllt. Nur so wird der Drache nicht wiederkommen.“
Der Mann bedankte sich und versprach, zu tun, was sie ihm aufgetragen hatte. Die Menschen kehrten in ihre Häuser zurück und Bente ging zurück in ihr eigenes, kleines Reich, aber erst, nachdem sie ihrer Schwester einen Besuch abgestattet hatte.
Der Drache kehrte nie wieder, denn das Licht des Kristalls erfüllte alle Herzen und machte sie weit und weich. Alea jedoch verließ das Dorf. Sie beschloss zu Bente zu ziehen und alles zu lernen, was notwendig war, um wie sie eine gute Hexe zu werden.

 

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