Hexenpost

Spiritualität - Umwelt - Gesellschaft

Die gute Hexe I

 

Das idyllische Forsthaus lag am Rande eines uralten Waldes. Die Wipfel der hochgewachsenen Bäume, in der Nähe des Hauses, schienen den Himmel zu berühren.
Hier lebte eine Hexe namens Rosara. Anders als in den Geschichten von früher, war Rosara keine böse Hexe. Im Gegenteil - ihre Magie setze sie nie ein. Sie liebte die Einsamkeit und hielt sich meistens von den Menschen fern. Ihren Unterhalt verdiente sie mit den Hinterlassenschaften ihrer Mutter. Dem Anbau und dem Sammeln von Heilpflanzen sowie der Herstellung von Tinkturen, Salben und Cremes, die sie einmal im Monat auf dem Markt verkaufte. Zudem besaß sie eine innige Bindung zur Natur, zu Tieren und zu den Elementen. Auch ihre Weisheit, gewachsen aus jahrhundertealtem Wissen, war tief und stark wie die Wurzeln der alten Bäume.
Nach dem Tod ihrer Mutter, vor einem Jahr, war Rosara in ihr bescheidenes Elternhaus zurückgekehrt. Ihr Vater, ein Förster, starb bereits Jahre vor ihrer Mutter und sie vermisste beide sehr. Die Kindheitserinnerungen, die sie mit dem alten Forsthaus verband, stimmten sie manchmal sentimental, oder fröhlich oder ermöglichten es, oft und herzhaft zu lachen.
Eines Morgens erwachte Rosara mit einem Gefühl der Vorahnung. Etwas würde an diesem Tag geschehen. Unruhig warf sie einen Blick aus dem Fernster. Draußen brachen gerade die ersten Sonnenstrahlen durch das Blätterdach und die Vögel begrüßten den neuen Tag mit ihrem Zwitschern. Es schien ein völlig normaler Tag zu werden.
Mit einem unguten Bauchgefühl setzte Rosara sich an den Frühstückstisch und aß etwas. Danach zog sie ihre Joggingschuhe an, um laufen zu gehen. Wie jeden Morgen. Doch die innere Unruhe ließ sie nicht los.
Als sie vor die Tür trat, atmete sie erst einmal tief die frische Morgenluft ein. Der Himmel über ihr war in sanfte Pastelltöne getaucht. Rosara begann zu laufen, ließ ihre Gedanken schweifen und genoss die Stille der frühen Stunde. Ihre Route führte sie durch den nahegelegenen Wald. Die Tautropfen auf den Grashalmen glänzten und durch die Bäume fiel sanft das Sonnenlicht. Während sie lief, dachte sie über das besondere Gefühl der Vorahnungen nach, die sie noch immer beherrschten. Sie versuchte, sich auf das rhythmische Trommeln ihrer Schritte beim Laufen zu konzentrieren. Es half. Und endlich begann sie das Gefühl der Freiheit zu genießen, dass ihr das Laufen vermittelte.
Sie stoppte abrupt, als sie plötzlich in der Nähe ein Geräusch hörte. Es klang wie das Wimmern eines verletzten Tieres. Rosara sah sich aufmerksam um, entdeckte jedoch kein Tier. Vorsichtig begann sie das Gelände zu durchstreifen, um sich dem Wimmern zu nähern. Einige leichte Blutspuren auf dem Boden weckten ihre Aufmerksamkeit. Sie suchte nach Hinweisen und hob schließlich einen armdicken Ast auf – bei einem verletzten Tier war Vorsicht geboten. Mit zögernden Schritten betrat Rosara eine Grünfläche, auf der ein riesiger Stapel gefällter Baumstämme lag. Erneut hörte sie das Wimmern. Wachsam näherte sie sich dem Stapel und sog erschrocken die Luft ein. Es war kein Tier, sondern ein Kind. Ein kleines Mädchen saß auf einem umgefallenen Baumstamm und weinte leise. Sie schien verletzt zu sein, denn ihr Bein blutete.
Rosara kniete sich vor das Mädchen und sprach sie mit leiser Stimme an: »Hallo, ich bin Rosara. Kannst du mir sagen, was passiert ist?«
Das Mädchen hob den Kopf. Tränen liefen ihr über das kindliche Gesicht. »Ich habe mich verlaufen und bin hingefallen«, schluchzte sie. »Ich wollte nur Blumen für meine Mutter pflücken und finde den Weg nicht mehr zurück.«
Rosara lächelte beruhigend und legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens. »Keine Sorge, ich kann dir helfen!« Das Mädchen nickte vorsichtig. »Lass mich mal deine Wunde ansehen.« Rosara beugte sich vor und betrachtete die Wunde am Bein des etwa sechsjährigen Mädchens. Es war ein Riss, der wahrscheinlich genäht werden musste, doch sonst schien sie nicht ernsthaft verletzt.
Rosara zog ein sauberes Taschentuch aus ihrer Jacke und riss ein Stück von ihrem eigenen T-Shirt ab, um es als provisorischen Verband zu nutzen. Sie wickelte den Stoff behutsam um das Bein des Mädchens und sicherte ihn mit dem Taschentuch. »Das wird erst mal helfen. Wir sollten die Wunde aber bald richtig reinigen und verbinden lassen.« Das Mädchen sah Rosara mit großen, dankbaren Augen an. »Dankeschön«, flüsterte sie leise.
»Wie heißt du?«, fragte Rosara sanft. »Lena«, antwortete das Mädchen zögerlich.
»Wo sind deine Eltern, Lena?« Rosara schaute sich um, konnte aber niemanden sehen. Die Kleine senkte den Blick und murmelte: »Meine Mama ist zu Hause. Sie ist sehr krank und kann nicht aufstehen.«
Rosara spürte, wie ihr Herz einen Schlag aussetzte. »Oh nein, das tut mir so leid. Was hat deine Mama?«
Das Kind zuckte mit den Schultern. »Ich weiß es nicht genau. Sie sagt immer, dass ihr es bald wieder besser geht, aber ich sehe, dass es ihr nicht gut geht.«
Rosara kniete sich vor Lena hin und sah ihr in die Augen. »Hör zu, Lena. Ich werde dir und deiner Mama helfen. Wir müssen jetzt zu ihr gehen und schauen, wie es ihr geht, okay?«
Wieder nickte Lena und Rosara nahm ihre Hand. Zusammen machten sie sich auf den Weg zu Lenas Zuhause. Zum Glück wusste Lena, wie die Straße hieß, in der sie lebte. Als sie das kleine Haus erreichten, öffnete Lena vorsichtig die Tür und führte Rosara ins Schlafzimmer. Dort lag Lenas Mutter blass und erschöpft im Bett.
Rosara setzte sich zu ihr an den Bettrand und sprach in sanften Worten mit ihr. Unterdessen versuchte sie die Situation einzuschätzen. Sie dachte darüber nach, was sie tun konnte, um hier zu helfen. Sie wusste, dass es mehr brauchte als nur erste Hilfe oder heilende Unterstützung und sie entschied sich dafür etwas Besonderes zu tun.
»Frau Schmidt«, begann Rosara, »ich bin hier, um zu helfen, aber ich bin keine gelernte Ärztin. Ich kann aber heilen. Vertrauen sie mir?«
Sie nahm die Hände der kranken Frau in die eigenen. Sofort spürte sie einen leichten Gegendruck. Auch der Blick der Frau war vertrauensvoll auf sie gerichtet. Rosara schloss die Augen. Erinnerungen schossen ihr durch den Kopf und sie dachte an ihre Ur-Großmutter - eine Dorfheilerin. Oft hatte sie Rosara Geschichten erzählt. Über das kleine Dorf am Rande des großen Waldes, in dem sie aufgewachsen war. Schon immer hatte ihre Ur-Oma darauf bestanden, dass Rosara sowohl die heilenden Künste als auch die Geschichten ihrer Vorfahren lernte. Diese Geschichten waren oft düster und handelten von Hexen, die ihre Magie für Rache und Machthunger nutzten. Rosara hatte nie verstanden, warum jemand solche Kräfte missbrauchte. Eines Tages, als Rosara’s Ur-Großmutter noch ein junges Mädchen war, wurde ihr Dorf von einer schweren Krankheit heimgesucht. Die Menschen litten und es gab kaum Hoffnung. Rosara's Ur-Oma tat alles, was in ihrer Macht stand, aber die Heilmittel, die sie kannte, reichten nicht aus. Also versuchte sie sich an einem neuen Mittel.
Rosara wusste, dass ihre Ur-Großmutter eine uralte Zauberformel besaß, die große Heilkräfte freisetzen konnte. Doch war sie von ihrer Vorfahrin versiegelt worden, um sicherzustellen, dass sie nicht in falsche Hände geriet.
In diesem Moment wusste Rosara, was zu tun war und entschied, das Risiko einzugehen, um die junge Mutter zu retten.
»Ich muss kurz zurück in mein Haus, um etwas zu holen«, begann sie. »Ich verbinde noch schnell Lenas Bein und geh dann los. Es dauert nicht lange. Bitte halten Sie aus und vertrauen Sie mir.«
Lenas Mutter nickte schwach. Tränen standen ihr in den Augen. »Danke!«, flüsterte sie. »Es ist so schwer, krank und gleichzeitig eine gute Mutter zu sein.«
Als Rosara im Forsthaus ankam, lief sie sofort auf den Dachboden und suchte die alte Truhe ihrer Ur-Großmutter. Schließlich fand sie diese vergraben unter alten Kartons, bedeckt mit einer Schicht aus Staub und Spinnweben. Sie öffnete den Holzkasten und entdeckte darin das versiegelte Buch. Rosara wusste, nur eine Nachfahrin der ursprünglichen Besitzerin konnte es öffnen. Sie nahm es und legte es auf den Boden. Vor dem magisch versiegelten Buch kniend, erinnerte sie sich an die Worte ihrer Ur-Großmutter: »Nur wenn du das wahre Wort des Schutzes sprichst, wird sich das Buch öffnen.«
Rosara schloss die Augen und konzentrierte sich. »Umbra«, flüsterte sie, und ein leises Klicken erklang. Das Buch begann schwach zu leuchten, doch es öffnete sich nicht. Sie dachte nach. Umbra bedeutete Schutz, aber das war anscheinend nicht das wahre Wort. Sie versuchte es erneut. »Confidentis«, sagte sie – das Wort für Vertrauen. Wieder ein Klicken, doch das Buch blieb geschlossen.
Schließlich fiel es ihr ein. »Amor«, flüsterte sie - das alte Wort für Liebe. Das Siegel brach und das Buch öffnete sich langsam, enthüllte die Geheimnisse, die es verbarg.
Mit zitternden Händen blättere Rosara hastig die Seiten nach dem bestimmten Zauber durch. Sie wusste, dass dieser entscheidend sein würde – nicht nur für die kranke Mutter, sondern auch für sie selbst. Und sie fand das Gesuchte.
Mit der Kraft des Zaubers konnte Rosara die Krankheit besiegen und so der Familie helfen. Diese war ihr unendlich dankbar und Rosara erkannte, dass dies nur der Anfang eines weiteren magischen Tages war. Ihre Hilfe würde stets gebraucht werden, sei es bei einem verlorenen Kind, einem kranken Tier oder einer verzweifelten jungen Mutter.
Und von diesem Tag an widmete Rosara ihr Leben der Hilfe und Heilung. Sie wollte beweisen, dass Magie nicht böse sein muss, sondern ein Werkzeug des Guten sein kann. Sie verfolgte einen neuen Weg, weil sie glaubte, dass die wahre Stärke einer Hexe in Mitgefühl und Weisheit liegt, nicht in Macht und Angst.
Diese Entscheidung prägte Rosara und machte sie zu einer guten Hexe. Eine Beschützerin und Helferin, die ihre Magie einsetzt, um Licht in die Dunkelheit zu bringen und den Menschen in ihrer Umgebung Hoffnung zu schenken.

 


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