Hexenpost

Spiritualität - Umwelt - Gesellschaft

Die Dryade zur Sommersonnenwende

 

Mit einem Weidenkorb voll mit Blumenkränzen, Edelsteinen und Marmeladengläsern gefüllt mit Wasser macht sich Terra auf den Weg zu ihrem Lieblingsort. Wie jede Woche besucht sie den Wald hinter ihrem Haus. Schon seit einigen Jahren zieht es sie immer wieder regelmäßig zu einer besonderen Lichtung umgeben von alten Bäumen. Sie liebt es, alleine im Wald zu sein, sich zwischen die Bäume zu setzen, mit ihnen zu reden und mit ihnen in Verbindung zu treten.
Als sie ihrer Schwester einmal von ihren Ausflügen und Ritualen erzählte, hielt diese sie nur für verrückt. Sie glaubte nicht an die Kräfte der Natur und an Hexen sowieso nicht. Terra aber ließ sich nicht beirren von den Überzeugungen anderer und vertraute auf ihre eigenen Erfahrungen. Die Bäume im Wald schenkten ihr immer wieder Kraft und Ruhe. Im Gegenzug will sie ihnen an diesem Tag zum Anlass der Sommersonnenwende Mondwasser zum Wachsen, Labradorit-Edelsteine zum Schutz und Blumenkränze zum Segnen bringen.
Mit der aufgehenden Sonne im Rücken spaziert Terra also durch den Wald. Den Weg vorbei am Holunderstrauch, dem kleinen Teich und dem großen Baumstumpf kennt sie bereits auswendig. Summend geht sie auf die Lichtung zu bis sie auf einmal einen leisen Schrei vernimmt. Der Schmerz, der in dem Schrei liegt, geht durch ihren gesamten Körper und sie bleibt augenblicklich stehen. Nach kurzer, absoluter Stille – selbst die Vögel waren verstummt – folgt wieder ein Schrei. Diesmal ist er lauter.
Terra packt ihren Korb fest in beide Hände und rennt in die Richtung der Schreie. Sie kennt den Weg, jeden Stein und jeden herabhängenden Ast, während sie dem Rufen folgt. Bis zu ihrer Lichtung. Wieder bleibt sie stehen als ob sie der Schlag getroffen hätte. Vor ihr sieht sie einen Jungen, kaum älter als 17 Jahre alt, mit einer Axt auf den Stamm des Eichenbaums einschlagen. Zertrampelt unter seinen Füßen waren noch die Rosmarinzweige zu erkennen, die sie in der letzten Woche dort hingelegt hatte.
Erneut nimmt er Schwung und schlägt mit der Axt auf die Wunde in der Rinde, die schon mehrere Zentimeter in dem Stamm hineingeht.
Zeitgleich mit dem Aufprall auf dem Holz, ertönt wieder ein Aufschrei, der Terra durch Mark und Bein fährt. Der Korb fällt ihr aus der Hand. Sie beachtet ihn nicht weiter.
„Stopp!“, ruft Terra und läuft die letzten Schritte auf ihn zu. Außer ihm war niemand zu sehen, von dem die Schreie stammen könnten. „Was machst du da?!“
Der Junge dreht sich mit einem genervten Blick zu ihr um: „Das siehst du doch.“
Sie erkennt ihn aus dem Dorf, Frank heißt er.
Die Schreie sind verklungen und stattdessen ist nur noch ein leises Jammern zu hören.
„Das sind Lebewesen, du kannst nicht einfach herkommen und einen Baum fällen.“ Völlige Ungläubigkeit liegt in ihrer Stimme.
„Natürlich kann ich das“, lacht er ihr entgegen, schaut sie aber leicht verunsichert an und lässt die Axt langsam sinken.
Während er das sagt, ist ein Knarzen über ihnen zu hören. Noch bevor einer von beiden schnell genug gucken und reagieren kann, fällt ein Ast direkt hinter ihm auf den Boden. Er geht erschrocken einen schnellen Schritt zur Seite und zieht seine Axt unter dem Zweig hervor.
„Verdammter Baum“, faucht er, den Blick nach oben auf die riesige Baumkrone der Eiche gerichtet.
Ein leises Kichern ertönt, aber Frank scheint es nicht zu hören. Woher kamen diese Geräusche?
„Bitte“, fleht Terra, „lass die Bäume in Frieden, sie haben dir nichts getan“. Sie würde die Bäume und den Wald dort mit allem, was sie hatte, beschützen. „
Verwirrt blickt er umher, als ein paar Meter neben ihnen mehrere Tannenzapfen zu Boden fielen.
„Schau dir diese Eiche an“, beginnt Terra zu erklären, „mit einem Tee von seinen Blättern helfe ich deiner Nachbarin mit ihren Magenproblemen. Dort die Esche“, sie zeigte auf einen Baum ein paar Schritte weiter, „gibt mir Blätter, mit denen ich meiner Mutter mit ihrem Rheuma helfen kann. Mit der Tanne stelle ich ein Mittel gegen Husten her für den Winter. Und dort hinten die Weide ist schmerzlindernd und hilft deinem Vater.“
Während ihren Erläuterungen ist der Junge immer mehr in sich zusammengeschrumpft und scheint sich doch etwas zu schämen für die Axt in seinen Händen.
„Das… das wusste ich nicht“, sagt er und schaut sich um, nimmt die Pflanzen um ihn herum wahrscheinlich zum ersten Mal richtig wahr.
„Bitte fälle nicht einfach wahllos Bäume. Ich erzähle dir gerne mehr über die Pflanzen, wenn du möchtest. Aber nicht so“, Terra zeigt auf die Axt in Franks Händen und er nickt nur.
Dann dreht er sich um und verschwindet in Richtung Waldrand. Vielleicht hat er es tatsächlich verstanden, hofft Terra.
Dann herrscht wieder Stille. Die Stille der Natur. Das leise Rauschen des Windes. Vogelgezwitscher. Rascheln im Unterholz.
Terra atmet einmal tief durch, nimmt die Luft des Waldes in sich auf.
Sie geht auf den Eichenbaum zu, legt eine Hand auf die Wunde, die Frank mit seiner Axt in den Stamm geschlagen hat und schließt die Augen.
„Danke.“ Der Hauch einer Stimme kommt ihr entgegen.
Langsam öffnet Terra die Augen und blickt auf eine Gestalt, die hinter dem Stamm hervorschaut.
Eine Frau, jedoch keine gewöhnliche. Sie trägt keine Kleidung, stattdessen ranken sich Wurzeln über ihren gesamten Körper. Ihre Haut ist hölzern. Wo bei einem Menschen Haare sind, sprießen Blätter und kleine Zweige hervor. Von den Schultern hinab wächst Moos über ihre Brust, die Hüfte und die Beine entlang.
Eine Dryade.
Terra traut sich nicht zu blinzeln oder auch nur einen Muskel zu bewegen, aus Angst, sie zu verscheuchen. In Büchern hatte sich schon von den mystischen Kreaturen der Baumfeen gelesen, ist aber noch nie einer begegnet.
Mit langgliedrigen Finger deutet die Dryade auf sich selbst und nennt ihren Namen: „Bala.“
Ihre Stimme klingt jung und leicht, als hätte sie in ihrem Leben noch nicht viel geredet.
Terra löst sich langsam aus ihrer Starre, nimmt die Hand vom Baum und deutet ebenfalls auf sich selber: „Terra.“
Nun tritt die Dryade vollständig hinter dem Baum hervor und lässt sich mit dem Rücken an die Eiche gelehnt langsam auf den Boden sinken. Ihre Beine zittern dabei ein wenig, als sei sie geschwächt. Sie blickt hinauf zu Terra und ein kleines Lächeln formt sich auf ihrem Gesicht. Ihre grasgrünen Augen funkeln in der Sonne.
„Du hast mich gerettet.“
Plötzlich versteht Terra und erinnert sich an das, was sie gelesen hat. Dryade sind seelenverbunden zu einem bestimmten Baum. Stirbt der Baum, vergeht auch ihr Leben.
Bala ist die Dryade des Eichenbaums. Eben jenes Baumes, den Terra seit Jahren regelmäßig besuchen kommt.
„Ich habe was mitgebracht“, fällt Terra wieder ein und sie hebt ihren Korb auf.
Balas Augen beginnen, noch mehr zu leuchten und voller Freude fragt sie: „Bringst du dein Wasser? Ich liebe dein Wasser!“
Terra muss lachen über die kindliche Freude der Dryade, die schon hunderte Jahre alt sein muss. Aus ihrem Korb reicht sie Bala das Glas mit dem Mondwasser und beobachtet sie voller Neugier.
Die Dryade nimmt das Gefäß entgegen, dreht sich zu ihrem Baum und gießt das Wasser um den Stamm herum auf den Boden, genauso wie Terra es die tausend Male zuvor getan hat.
„Es ist schön dich kennenzulernen“, sagt Terra voller Ehrfurcht und Respekt gegenüber der Dryade. In ihrem Leben als grüne Hexe waren ihr schon viele Wunder begegnet – die Kraft der Pflanzenwelt, die Wirkung von Edelsteinen. Aber einer Kreatur wie Bala war sie noch nie begegnet und sie fühlt sich tief geehrt.
„Ich habe mich immer gefreut, wenn du gekommen bist“, Balas Stimme klingt schon etwas kraftvoller und sie richtet sich weiter auf. „Deine Geschenke sind bei uns immer willkommen.“
Durch ihre Worte ermutigt nimmt Terra die Blumenkränze aus dem Korb und verteilt sie auf der Lichtung. Sie hängt sie an Äste oder lehnt sie an die Stämme der Bäume bis die gesamte Lichtung erstrahlt mit bunten Blumen.
Terra dreht sich einmal um sich selbst und bewundert die Schönheit der Natur bevor sie wieder auf Bala zugeht. Ihre Eiche steht noch immer fest verwurzelt da und scheint im leichten Wind zu tanzen.
Lautes Rascheln ertönt um die Lichtung herum und Terra schaut erstaunt auf die Bäume und die Kreaturen, die hinter ihnen hervortreten. Eine Dryade nach der anderen zeigt sich und sie sammeln sich um Terra und Bala herum. Wie alte Freunde begrüßen sie sich, setzen sich gemeinsam auf den weichen Waldboden oder lehnen an Bäumen. Die Dryade reden nicht viel, sondern genießen einfach die Anwesenheit der anderen. Manche beobachten Terra interessiert, andere lächeln sie freundlich an und nicken ihr zu.
Magie schwebt in der Luft.
Terras Haut prickelt vor Aufregung und gleichzeitig fühlt sie sich friedlich und ruhig inmitten der Dryaden.
Bala beginnt zu sprechen, sie erzählt von der Geschichte des Waldes. Die anderen stimmen mit ein und gemeinsam reden sie von alten Zeiten, verlorenem Wissen und spannenden Mythen. Terra saugt jedes einzelne Wort der Dryaden in sich auf, und es ist, als würde die Welt um sie herum stehenbleiben.

 

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