Hexenpost

Spiritualität - Umwelt - Gesellschaft

Der Zauber der Waldhexe

 

Der Wert einer Ressource wird gemessen an ihrem Nutzen für die Menschheit. So verhält es sich, seit unsere Vorfahren begannen, damit zu handeln. Seit sie begannen Essen gegen Kleidung, Werkzeug gegen Medizin zu tauschen. Obwohl zu dieser Zeit noch kein Bewusstsein über den weltlichen Wert einer Ressource das Denken der Menschen regierte, handelten sie mit dem Blick für die Gleichheit ihres Austausches. Wo gegeben wird, da muss auch genommen werden. Eine Regel, die unserer Natur wie ein Gesetz zugrunde liegt. Doch scheint die Erinnerung daran den Geist des Menschen verlassen zu haben, sobald er begann, mit Geld und Gold zu handeln.
Ein Stück Metall, welches ein Schmied in eine runde Form gepresst und mit dem Siegel des lokalen Herrschers versehen hat. Im Tageslicht besitzt es einen beständigen Glanz, bei Nacht schluckt es die Wärme der Person, die es unter ihrem Kopfkissen lagert. Zu viel mehr wäre es gar nicht von Nutzen, würden es nicht die Schönen und Reichen großzügig gegen Güter eintauschen, an denen es den Bürgerlichen mangelt. Dem Gold sind die Adligen erlegen, wie ein Seemann der Lorelei. Und da sich ihre Gunst durch eine Handvoll Münzen leicht erwerben lässt, verbreitete sich der Fluch dieser neuen Ressource wie eine Plage über die Welt.
In ein einem kleinen Dorf, etwa eine Tagesreise mit der Kutsche vom Fürstentum entfernt, erkannte der dortige Bürgermeister die wahre Gestalt dieses Fluches, als eines Tages der kleine Sohn des Fischers einen glänzenden Stein im Bauche eines Karpfens fand. Und mit dem Dorf in heller Aufregung bestellte der Bürgermeister einen Schmied her, der ihm sogleich bestätigte: Es handelte ich um Gold. Die Nachricht zog wie ein Sturm durch die Münder und Ohren der Dorfbewohner. Zeiten von Überfluss und Wohlstand, die Zuwendung des Fürsten stünden ihnen bevor, begannen sie zu träumen. Und um ihre Träume wahr werden zu lassen, brach der Bürgermeister mit zwei Jägern an seiner Seite auf, um sich vom Sohn des Fischers den Ort zeigen zu lassen, an welchem dieser das Gold fand.
Eine weite Wiese vor einem gemächlichen Bach, welcher aus einem dichten Wald entsprang. Im Anblick der dichten Bäume machten die Männer halt. Anders als der Junge, der sie geführt hatte, wussten die Männer um die Bedeutung dieses Ortes. Die Ansässigen mieden das Dunkel zwischen den Ästen wie aus Instinkt. Dichtes Blattwerk machte den Tag darunter zur Nacht. Und sobald die Sonnte hinter dem Horizont verschwunden war, drangen die mahnenden Rufe der Eulen und Kauze aus dem Dickicht. Weder die Pferde noch die Hunde trauten sich hinter die Schwelle zu dem zwielichtigen Grün und so hatten die Dörfler beschlossen, es ihnen gleich zu tun. Lediglich einmal hatte es einen reisenden Händler in einem Anflug von Abenteuerlust mit seinem Karren in die pflanzliche Urtümlichkeit verschlagen. Als er zwei Tage später ohne sein Hab und Gut aus dem Wald gehastet kam und im Dorf nach Schutz vor seinen Erfahrungen suchte, hatte er in seinem fiebrigen Wahn von sprechendem Totholz und wütenden Dämonen berichtet, die ihm gefolgt waren. Seitdem bestand kein Zweifel mehr: Diese Wälder waren verflucht.
Die Männer schickten den Sohn des Fischers zurück zu seinem Vater, bevor sie ihren Mut zusammennahmen und zwischen die Bäume traten, wo die Blätter in den Kronen die Brise zwischen den Gräsern in ein schattiges Flüstern verwandelten. Die Waffen ihren Händen gaben ihnen Halt, als sie sich dem Bach folgend tiefer in das Unbekannte vorwagten. Raben auf den hohen Ästen sahen auf die menschlichen Besucher herab, die in ihr Hoheitsgebiet eingedrungen waren, verschwanden lautlos, nur um sie an anderer Stelle wieder aus den Schatten zu beobachten. Die Geschichten des wirren Händlers steckten ihnen tief in den Knochen. Niemand sprach ein Wort, während sie ihren eigenen Schritten im Unterholz lauschten, doch sie wussten genau, dass ihre Begleiter die Gesichter in den Furchen der Baumrinde ebenfalls sahen.
Ein brechender Ast in der Ferne ließ sie den Atem anhalten. Eine Bewegung zu ihrer Rechten und einer der nervösen Jäger ließ den Bolzen seiner Armbrust sauen, bevor ihnen eine schwarze Katze fauchend vor die Füße sprang. Empört schlug das Tier mit den Klauen nach ihren Füßen, dann verschwand es eilig im Gestrüpp. Im weitesten Sinne keine gefährliche Begegnung, doch von Erleichterung waren die Männer noch weit entfernt. Das Tier war ein Omen, da waren sie sich sicher. Eine heidnische Warnung, sich auch nur einen weiteren Schritt in diesen gottlosen Ort zu wagen. So kam es, dass der erst Jäger kehrt machte. Ununterbrochen betend verließ er den Wald, der Mann, der bereits Wölfen und Bären in die blutdurstigen Augen gesehen hatte. Still sprach auch der Bürgermeister sein Mantra, als er sich auf sein Ziel besann und mit dem verbleibenden Jäger dem Plätschern des Baches folgte. Wohlstand und Reichtümer würden auf sie warten. Doch als der dichte Wald sich zu öffnen begann, um ihnen die felsige Anhöhe zu zeigen, aus welcher der Quell entsprang, da sahen die Männer etwas, das nun auch den zweiten Jäger das Weite suchen ließ. Die Vögel des Waldes erhoben sich aus den Kronen, als der erschütterte Schrei des Flüchtenden durch die Hölzer schallte. Und die Raben, die Krähen, die Eulen und die Spatzen ließen sich nieder an der Seite der Frau, die über dem Quell auf den Steinen saß. Auf ihrem Schoß die pechschwarze Katze.
„Hexe!“, kam es dem Bürgermeister als einziges Wort über die Lippen, als er nach dem Kreuz um seinen Hals langte.
Die Gestalt ihm gegenüber jedoch wirkte unbeeindruckt. Er war ihr in die Falle gegangen. So dachte er. An Flucht war nicht zu denken, als sie aufstand und nähertrat, während die Augen der Tiere schwer auf ihm lasteten.
„Ich weiß, was euch herführt.“, sprach die Hexe. „Die Krähen haben es mir gesagt. Ihr sucht nach den Erzen dieser Landschaft. Wollt sie schürfen und handeln, nicht wahr?“
„Im Namen meines Dorfes.“, entgegnete der Bürgermeister. „Die Schätze dieses Ortes bringen meinen Leuten Wohlstand.“
„Ein Wohlstand aus Blut und Metall.“ Sie spuckte ihre Worte, als wolle sie ihn den Ekel in ihrer Stimme spüren lassen. „Ihr grabt und schürft, bis ihr den Boden bis auf die Knochen beraubt habt. Und dann zieht ihr weiter und hinterlasst nichts als ein Loch. Ein Totes Gerippe, wo die Erde euren Durst nach Reichtümern nicht sättigt. Und ich bin es leid, dabei zuzuschauen!“
Auf ihre Worte antwortete der Wind mit einem stürmischen Brausen, das Wolken vor die Sonne trieb, bis das einzige Leuchten aus den furiosen Augen seiner Gegenüber entsprang. Ihr Haar, das den Sturm fing, so lang und kraus wie das Moos auf dem Stein. Ihre Stimme so mächtig wie ein rollender Donner. Diese Frau war kein Fluch, das begann er zu begreifen. Sie war ein Teil der Natur, in welche er eingedrungen war.
„Welchen Wert kann ein Schatz haben, wenn du dafür deine eigene Herkunft verrätst?“, fragte sie ihn, ohne eine Antwort zu erwarten. „Wo gegeben wird, da muss auch genommen werden. Denk darüber nach, wenn du das nächste Mal die Natur ihrer Schätze beraubst. Denn sie ist auch deine Mutter!“
Mit dem nächsten Wind erhob sich das Geräusch der hundert Flügel, vor denen sich der Bürgermeister mit der offenen Hand zu schützen versuchte. Über seinen Kopf hinweg kehrten die Vögel zurück in den Wald und sobald sich das ohrenbetäubende Flattern entfernte, war die Hexe bereits verschwunden, als haben die Krähen und Eulen sie mit sich getragen. Was verblieb waren ihre Worte und die Demonstration ihrer Wut. Und der Bürgermeister nahm sie mit sich wie ein Zauber, den sie ihm auferlegt hatte. Sie hatte ihn gehen lassen, lebendig. Damit er zurückkehrte in sein Dorf, um seinen Teil ihres Handels zu leisten.
Solange der Mythos des Fluches erhalten blieb, wagte sich kein Mensch in den Wald hinein. Der verborgene Schatz in seinem Inneren war längst vergessen, sobald die Legende eines Tages verflog. Wer sich heutzutage in den unberührten Wald wagt, den verfolgen die Blicke der Krähen wie damals. Der sieht die Gesichter in den Bäumen und wird womöglich von einer schwarzen Katze überrascht. Doch der Schatz des Waldes ist heute ein anderer. Wer sich heutzutage in das Dickicht wagt, der spürt die Magie der Natur unter dem Schutz des Blätterdaches und hört das Echo des Zaubers, den die Waldhexe vor so langer Zeit zu dem Bürgermeister sprach. Ein Zauber, der erinnern lässt an unsere Herkunft und an den Preis unseres Handelns. Hier im Angesicht von Mutter Natur bleibt der Mensch heute stehen, sieht über das Gold zu seinen Füßen hinweg und zwischen die Kronen der Bäume, wo die Blätter ihn flüsternd begrüßen. Im Schatten der Zweige beginnt er dann zu lächeln und flüstert zurück.
„Schön, dass du noch da bist.“

 

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